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Geteiltes Geheimnis

Prof. Dr. Miriam Meckel
Ordentliche Professorin für Corporate Communication,
Universität St.Gallen.
Foto Stefanos Notopoulos

Kürzlich habe ich mich wieder einmal selbst besucht. Ich traf mich in einem dunklen Raum, trist und öde. Da stand ich, nackt, mit hängenden Armen und dem Gesicht zur Wand. Eine trostlose Begegnung. Die letzte liegt mehr als zehn Jahre zurück. Das war 2006, und im Netz trat die erste Welle der virtuellen Realität ihren Siegeszug an. Das US-Unternehmen Linden Lab hatte eine Zweitwelt im Internet eröffnet, das Second Life, und es sah so aus, als würde sich unser Leben ändern, weil wir von nun an immer grössere Teile davon in diesen Datenraum verlagern könnten. Man brauchte dazu nur einen Avatar. Das war eine virtuelle Figur, ein Ich-Vertreter, mit dem man die neue Welt erleben konnte.

 

Damals begann eine besondere Phase digitalen Gründer- und Kreuzfahrertums. Es galt die neuen virtuellen Welten zu erobern, in denen alles möglich schien, was in der Realität möglich war, aber noch mehr und vor allem besser. Die Hoffnung der Betreiber von Second Life richteten sich darauf, im Netz einen besseren, weil effizienteren Kapitalismus zu errichten. Philip Rosedale, Gründer von Second Life, sah sich bereits als Adam Smith der virtuellen Welten. Deren ordnendes Moment beschränke sich auf die unsichtbare Hand, erklärte er damals dem britischen «Economist »: Im Second Life hätte eine 80-jährige Inderin dieselben Chancen wie ein Grosskonzern. Reale Zwänge wie Ressourcenknappheit, Informationsdefizite oder die verzerrende Wirkung von Skaleneffekten gebe es nicht. Der Informatiker und Philosoph Jaron Lanier verkündete seinerzeit, die virtuelle Welt habe «zweifellos das Potential, das reale Leben besser zu machen ». Eine Disruption der Wirklichkeit schien nahe.

«Superschlaue Software perfektioniert schon bald unser Leben. Der Mensch braucht im digitalen Kapitalismus nur noch seine Nährstoffzufuhr zu organisieren, für alles andere ist eine ideale Maschine zuständig, der Source Code des Lebens. Bleibt nur eine Frage: Wie sorgen wir dafür, dass die Software humanistisch gebildet ist?»

Damals begann eine besondere Phase digitalen Gründer- und Kreuzfahrertums. Es galt die neuen virtuellen Welten zu erobern, in denen alles möglich schien, was in der Realität möglich war, aber noch mehr und vor allem besser. Die Hoffnung der Betreiber von Second Life richteten sich darauf, im Netz einen besseren, weil effizienteren Kapitalismus zu errichten.

 

Dann kam es anders. Das «Second Life» blieb ein Abklatsch der Realität mit unzureichenden technischen Mitteln. Mein persönlicher Avatar ist deshalb nur einer von vielen, die ihr potentiell endloses Leben in irgendeinem virtuellen Darkroom einer einst so leuchtenden Zukunft fristen. «Welt wird geladen », sagt die Software von Second Life noch heute beim Start. Ganz so einfach ist es dann leider doch nicht.

 

In diesen Tagen nun arbeiten die Programmierer in aller Welt fieberhaft an einer Neuauflage. Noch besser, noch anspruchsvoller, noch weitreichender. Die rasante Entwicklung der künstlichen Intelligenz (KI) in wenigen Jahren hat gezeigt, was sich mit neuen Technologien alles verändern kann. Erst waren es die LKW-Fahrer in den USA, die um ihre Jobs fürchten mussten, weil demnächst künstlich intelligente LKW in einem sich selbst steuernden Mobilitätssystem über die Strassen gleiten, ohne Staus zu verursachen. Heute ist längst klar, dass nicht nur mechanische Abläufe durch KI verändert werden. Mit dem Einsatz von KI lassen sich bei Unternehmensprozessen bis zu 90 Prozent der Kosten reduzieren. Eine KI kann Diabetes oder Depression eindeutiger diagnostizieren als der beste Arzt. Künstlich intelligente Systeme analysieren Schriftsätze von Anwaltskanzleien, schaffen Kunstwerke, Musik und schreiben Berichte über ein Spiel des FC St.Gallen. Es wird dieses Mal nicht darum gehen, mit ein bisschen mehr Technik im Leben umzugehen. Künstliche Intelligenz wird unser Leben und unsere Gesellschaft umkrempeln in Weisen, die wir gerade erst zu verstehen beginnen.

 

Die weitreichendste Veränderung unserer Welt in eine durch Software perfektionierte Gesellschaft ist keine Utopie mehr. Sie ist die nächste Variante eines digitalen Kapitalismus, in dem alle Erfahrungen, Erlebnisse und Aktivitäten in Codes übersetzt und zu einer zweiten, virtuellen Wirklichkeit werden: eine Art Source Code des digitalen Lebens.

 

Karl Marx hat in seinem «Fragment über Maschinen » bereits 1857/58 ziemlich klug ein Szenario angedacht, das dem, was sich nun als digitaler Kapitalismus virtueller Welten abzeichnet, sehr nahe kommt: die Kreation einer «idealen Maschine», die für immer existieren kann und nichts mehr kostet. Marx hat sie sich seinerzeit als riesigen Automaten vorgestellt, «der aus zahlreichen mechanischen und mit Verstand begabten Organen zusammengesetzt ist, die in Übereinstimmung und ohne Unterbrechung tätig sind, wobei all diese Organe einer treibenden Kraft unterworfen sind, die sich von selbst bewegt».

 

Die ideale Maschine der Gegenwart sind die Algorithmen der künstlichen Intelligenz. Sie können irgendwann in Zukunft eine Gesellschaft steuern, in der die Menschen nicht mehr arbeiten müssen. Das macht die Maschine für sie. Diese Maschine treibt sich selbst an und ist sich selbst genug. Diese Form des digitalen Kapitalismus produziert das optimale individualisierte Equilibrium einer sozialen Ordnung, in der jeder dann die Chance hat, seine Lebensbedingungen unabhängig von den in der realen Welt existierenden Grenzen der Verfügbarkeit von Kapital und Arbeit zu verbessern. Ressourcenintensive oder sozial unverträgliche Wünsche und Ziele verlagern wir in eine virtuelle Welt der softwaregesteuerten Animationen. Wie ambitioniert diese Wünsche auch ausfallen mögen: Niemand nimmt einem anderen etwas weg, denn diese virtuelle Welt braucht keine Rohstoffe, sie braucht nur Code.

 

Deshalb gibt es keine Ressourcenverschwendung, keine Ungleichheit und keine Ausbeutung anderer Menschen. Das zweite Gossen’sche Gesetz, die Grenznutzenausgleichsregel, wäre ausser Kraft gesetzt. Im virtuellen Kapitalismus befände sich jeder stets in seinem Haushaltsoptimum. Niemand müsste sich mehr um die Umstrukturierung seines Konsums kümmern, um Ausgabeverhalten und erzielten Nutzen bei konkurrierenden Gütern auszubalancieren, weil alles immer gleichzeitig bedingungsfrei möglich ist. Selbst mit sich selbst und der eigenen Gier nach Erleben und Erfahrung darf man immer gnädig sein. Wir können den Kuchen nicht gleichzeitig essen und behalten? Im virtuellen Kapitalismus gilt: Yes, we can!

 

Der britische Journalist Paul Mason ist davon überzeugt, die Menschheit betrete in diesen Tagen einen neuen Raum der Entfaltung, den das Internet geöffnet hat. In seinem gleichnamigen Buch malt er einen «Postkapitalismus» an die Wand, der nichts anderes ist als eine sozialistische Utopie, ermöglicht durch digitale Technologie und Vernetzung. Information, so Mason, ist nicht mehr knapp, sondern steht im Überfluss zur Verfügung. Wo keine Knappheit, da kein Markt und keine Preisbildung, denn Zugang zu Information ist immer nur einen Mausklick entfernt. Der digitale Kapitalismus, das könnte der Himmel auf der vernetzten Erde sein, weil er, so Mason, kein Kapitalismus mehr ist.

 

Will man tatsächlich die Veränderungen eines digitalen Kapitalismus ausloten, gilt es den Fehler zu vermeiden, der bisher noch jede Debatte über die Zukunft des Systems, in dem wir wirtschaften wollen, gekapert hat: die Vermischung von Instrument und Zweck. Wie gewohnt wird die Diskussion um das ökonomische Gesellschaftsmodell auch jetzt wieder unter falschen Vorzeichen geführt, indem sie moralisch aufgeladen wird. Die grössere Zahl der Digitalpropheten befürchtet, die Protagonisten des Silicon Valley führten die Welt über Monopolbildung, Ausbeutung, Entfremdung – alle diese historischen Begriffe sind wieder im beschleunigten Umlauf – geradewegs in die ökonomische Falle. Nach dem Kapitalismus droht in dieser Logik eine Zukunft, die verdächtig nach Vergangenheit aussieht: Der Internetkritiker Evgeny Morozov sieht die Menschheit gar auf dem Weg in den Präkapitalismus mit seinen moralischen Verwerfungen.

 

Das ist Unsinn. Seit Jahrhunderten leidet der Kapitalismus an der Moral. Nicht aus Überzeugung, denn genau die fehlt ihm ja. Kapitalismus ist keine Glaubenssache, man kann ihn gut oder schlecht finden, aber er ist nicht an sich moralisch gut oder schlecht. Der Kapitalismus ist schlicht eine soziale Ordnung. Sie beruht auf dem Privateigentum an den Produktionsmitteln, der Steuerung von Produktion und Konsum über den Markt und dem «Streben nach Gewinn im kontinuierlichen, rationalen kapitalistischen Betrieb », wie es Max Weber in seiner Schrift «Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus» (1904/05) beschreibt.

 

Innerhalb dieser Ordnung ist es einem jedem Menschen möglich, mit Hilfe ökonomischer Beziehungen seine Lebensumstände zu verbessern. Wenn die Bedingungen von Marktmechanismen, Wettbewerb und Privateigentum stimmen, liegt es zunächst mal am Individuum, ob es die Chance nutzt oder nicht.

 

Entlastet man den Kapitalismus also von moralischen Ansprüchen und setzt auf die Kraft der neuen Technologien, entspinnt sich ein faszinierendes Szenario: Die Verbesserung der Lebensumstände durch Digitalisierung ist dann nicht Utopie, kein Second Life unter neuen Vorzeichen, sondern Real Life, Wirklichkeit.

 

Eine Frage aber bleibt. Wer sorgt dafür, dass dieser Source Code des Lebens, diese Leviathan-Maschine, humanistisch gebildet und damit hoffentlich menschenfreundlich ist? Marx argumentiert in seinem «Fragment», das Wissen hinter der «idealen Maschine » müsse sozial sein, also irgendwie von der Allgemeinheit kontrolliert werden. Das bedingt nicht zwangsläufig die Umsetzung einer digitalen Planwirtschaft für KI-Entwicklungen. Aber es setzt unbedingt voraus, dass wir auch in Zukunft in der Lage sind, uns miteinander über die Voraussetzungen, Gegebenheiten und Chancen unseres transformativen Lebens zu verständigen. Kurz gesagt: Wir sollten weiterhin aus der Geschichte lernen, die Gegenwart analysieren und mit unseren menschlichen prospektiven Fähigkeiten umreissen, wie wir uns eine menschenwürdige Zukunft vorstellen. Wie können wir in Zukunft mit Hilfe ökonomischer Beziehungen unsere Lebensumstände verbessern? Die Antwort auf diese Frage ist voraussetzungsreich. Wir sollten sie nicht allein den Maschinen überlassen.

 

Soll das gelingen, kann auch ein künstlich intelligentes Morgen auf Bildung nicht verzichten – im Gegenteil. Wenn eine immer umfassender technisch gesteuerte Welt auf uns wartet, wächst der Bedarf nach humanistischer Bildung, nach Orientierung an einem umfassenden Verständnis der Welt und ihres Wandels, wie es Wilhelm von Humboldt zugeschrieben wird. Das ist als aufklärerische Bedingung von Gemeinschaft und Gesellschaft Voraussetzung für den Respekt vor dem Individuum und dem Zuspruch zur Freiheit des Einzelnen. Wenn der Mensch im digitalen Kapitalismus als mündiges Wesen leben will, muss er in der Lage sein, humane Vernunft und maschinelle Rationalität zu verbinden.

 

Wo kann das besser gelingen als an einem Ort, an dem beides sich treffen kann? Ein Ort, der hilft, alles kennenzulernen und zu üben, das über unsere Zukunft entscheidet: die Kommunikation, mit der wir uns verständigen, den Kontext unseres Wissens und Handelns, der alles Leben beeinflusst, und die Solidarität, die wir auch zukünftig brauchen, um zusammenleben und -wirken zu können – als Menschen mit Menschen und als Menschen mit Maschinen. Für all das bietet das St.Gallen Learning Center die räumlichen Voraussetzungen. «The Grid» steht für den Raster, das Beziehungsnetzwerk zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz, in dem wir künftig unser Denken und Wirken verorten werden. Es wird durch Kommunikation und Begegnung, durch Lernen und Handeln auch ein Ort sein, der jedem klarmacht: Es gibt auch im digitalen Kapitalismus kein zweites Leben, kein «Second Life». Es gibt auch keinen Avatar meiner selbst, der als Ich-Vertreter meine Zukunft gestaltet. Das müssen wir alle schon selbst machen.